
Hamburger Abendblatt October 11, 2006
Japan - die fernöstliche Atommacht im Wartestand
Von Frank Ilse
Hamburg - Nordkoreas Test eines Atomsprengkopfs hat international vor allem die Sorge vor einer neuen Runde des Wettrüstens genährt. In der Region fühlt sich neben Südkorea vor allem Japan bedroht. Offiziell beteuert Tokio, selbst keine Nuklearwaffen entwickeln zu wollen. Doch es gibt auch andere Stimmen.
Im Oktober 2004 trat eine Expertenkommission aus Akademikern, Wirtschaftsführern und ehemaligen Staatsbeamten in Japan zusammen, um die Möglichkeit einer nuklearen Erstschlagfähigkeit für die Streitkräfte zu diskutieren. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Japan diese Frage zweimal diskutiert, vor allem vor dem Hintergrund einer nuklearen Bedrohung durch China. Das Ergebnis der Kommission war die Ablehnung von Atomwaffen für das Land. Denn die Reaktion der Nachbarländer China und Nordkorea sei nicht abschätzbar.
Doch hinter den Kulissen wird auch anders geredet. Nicht wenige auf den japanischen Inseln sind der Auffassung, dass der Besitz von Nuklearwaffen die Chancen erhöht, von einem zweiten Hiroshima verschont zu bleiben.
Tatsächlich wäre Japan durchaus fähig, innerhalb von nur ein oder zwei Jahren eine Atommacht auf die Beine zu stellen, die China ernsthaft bedrohen würde. Denn Japan hat die technologischen Fähigkeiten, die Ressourcen und das Geld. Obendrein sind die japanischen Streitkräfte bereits jetzt mit Systemen ausgerüstet, die mit Nuklearwaffen bestückt werden könnten. Dazu zählt zum Beispiel der F-15 Jagdbomber aus US-Produktion. Auch Japans Raketenprogramm ließe sich problemlos nutzen. Schließlich wäre auch die Beschaffung von U-Booten kein Problem. So lassen sich die neuen deutschen U-Boote des Typs 212 so ausrüsten, dass Marschflugkörper von ihnen gestartet werden können. Israel hat sie schon bestellt.
Tatsächlich ist die gesamte Rüstung Japans der vergangenen Jahre darauf ausgelegt, offensive Fähigkeiten zu entwickeln. Japan hat eigene Flugzeuge für die Luftbetankung, eine eigene Awacs auf Basis der Boeing 767 und investiert viel in den Bau von Landungsschiffen für amphibische Operationen.
Die japanischen Atomkraftwerke produzieren ausreichend Plutonium, um nach Schätzungen des US-Strategieinstituts GlobalSecurity.org an die 1000 nukleare Sprengköpfe herzustellen. Der damalige Vorsitzende der Liberalen Partei, Ichiro Ozawa, sagte vor vier Jahren an die Adresse Chinas: "Es wäre leicht für uns, Atomsprengköpfe herzustellen. Wenn wir Ernst machen, wird uns niemand als Militärmacht schlagen."
Zwar unterschieb das Land 1976 den Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen, doch lässt Artikel X des Vertrags einen Ausstieg zu, sollten "außergewöhnliche Umstände" die "höchsten Interessen" des Landes gefährden. Japans neuer Regierungschef Abe strebt eine Verfassungsänderung an, um die reine Nutzung der Streitkräfte zur Selbstverteidigung aufzuheben. Und die meisten Nationen betrachten Japan mittlerweile bereits als "paranukleare" Macht: Das Land hat keine Atomwaffen - noch nicht.
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