
Spiegel Online July 6, 2006
Rätselraten um Nordkoreas Atomrakete
Von Markus Becker
Der fehlgeschlagene Test der Taepodong-2-Rakete hat die Verwirrung über Pjöngjangs technische Fähigkeiten verstärkt: Kann die Taepodong-2 wirklich die Westküste der USA erreichen? Oder besitzt das Regime gar keine Langstreckenraketen?
Sind sie erst von der Last der Regierungsverantwortung befreit, werden Politiker gern auch mal deutlich. Wie etwa William Perry, der unter US-Präsident Bill Clinton als Verteidigungsminister diente und als solcher intensiv mit dem nuklearen Rüstungsprogramm Nordkoreas beschäftigt war. "Fährt Nordkorea mit seinen Startvorbereitungen fort, sollten die Vereinigten Staaten sofort deutlich machen, dass sie die nordkoreanische 'Taepodong'-Rakete zerstören würden, bevor sie abheben kann", schrieb Perry am 22. Juni in einem Beitrag für die "Washington Post".
Der Artikel spart zwar nicht an politischer Kraftmeierei, unterschlägt aber eine nicht ganz nebensächliche Tatsache: Kaum jemand in der westlichen Welt weiß, was die Nordkoreaner technisch können. Das Land ist dermaßen abgeschottet, dass bestenfalls ungefähre Informationen über die Leistungsdaten der Taepodong-2 vorliegen.
Jetzt wurde die Rakete erstmals von den Nordkoreanern abgefeuert - und stürzte nach 40 Sekunden ins Meer. Westliche Militärexperten rätseln nun: War es nur eine Panne, oder war den Nordkoreanern klar, dass das Geschoss abschmieren würde? War der Test also nur der nächste Akt im Versteckspiel um angeblich funktionsfähige nordkoreanische Interkontinentalraketen?
Bereits 1998 war im sogenannten Rumsfeld-Bericht die Rede davon, dass leichtgewichtige Versionen der Taepodong-2 bis zu 10.000 Kilometer weit fliegen könnten. Damit würden sie das Festland der USA innerhalb eines Bogens bedrohen, der von Phoenix in Arizona bis nach Madison in Wisconsin reiche.
Warnung vom CIA-Direktor
Im Februar 2003 warnte der damalige CIA-Chef George Tenet, Pjöngjang besitze ballistische Raketen, die Alaska, Hawaii und sogar die Westküste des US-Festlands erreichen könnten. Im Februar 2005 warnte Vizeadmiral Lowell Jacoby, Chef des Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA), den US-Senat mit noch deutlicheren Worten: Nordkorea könne mit einer zweistufigen Taepodong-2 Teile der USA und mit einer dreistufigen Variante "wahrscheinlich ganz Nordamerika" angreifen. Zudem habe Pjöngjang die Fähigkeit entwickelt, die Rakete mit einem Atomsprengkopf zu bestücken.
Allerdings hieß es sowohl in Jacobys Aussage als auch im Rumsfeld-Report, dass erst entsprechende Raketentests eine solche Bedrohung real machen würden. Das stalinistische Steinzeitregime unter Präsident Kim Jong Il aber ist einen solchen Beweis bisher schuldig geblieben. Der jüngste Test hat daran nichts geändert.
Offiziell bestätigte Informationen über die Taepodong-2 gibt es kaum. Es scheint nicht einmal klar, ob es sich um eine zwei- oder dreistufige Rakete handelt. Unterschiedlichen Quellen zufolge sollen die ersten beiden Versionen eine Reichweite von 3650 bis 4300 Kilometern besitzen und 700 bis 1000 Kilogramm an Zuladung tragen können. Die erste Stufe soll nahezu oder vollständig identisch mit der chinesischen CSS-2-Rakete sein.
Die zweite Stufe basiere nach allgemeiner Kenntnislage auf der bereits bekannten nordkoreanischen Nodong-2-Rakete, heißt es auf der Webseite der "Federation of American Scientists". Pjöngjangs Ingenieure hätten offenbar größere Schwierigkeiten damit gehabt, die beiden unterschiedlichen Designs zu vereinen - was zu strukturellen Schwächen der Rakete führe.
Mehr als 12.000 Kilometer Reichweite?
Das aber treffe nur auf die ersten beiden Versionen der Taepodong-2 zu, berichtet der amerikanische Thinktank Globalsecurity.org. Mittlerweile hätten die Nordkoreaner umgeschwenkt und die Rakete von Grund auf neu entwickelt - unter anderem in Zusammenarbeit mit Iran. Diese Taepodong-2C/3-Rakete besitze eine Reichweite von bis zu 12.000, vielleicht sogar 15.000 Kilometern.
Unabhängige Bestätigungen für diese Informationen gibt es freilich nicht. Eines aber scheint relativ sicher: Wenn US-Spionagesatelliten - wie auch vor dem jetzt gescheiterten Test - erneut eine Taepodong-2 beim Auftanken erspähen, dürfte sofort höchste Alarmbereitschaft bestehen. Denn die Rakete fliegt den bisherigen Informationen zufolge mit einem hochkorrosiven Mix aus Benzin, Kerosin und einem Oxidationsmittel aus Salpetersäure.
Die aggressive Brühe dürfte sich binnen weniger Tage durch die Außenhaut der Rakete fressen. Wird sie also aufgetankt, steht der Start kurz bevor - es sei denn, er wird abgesagt.
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