
FACTS September 2, 2004
Kosmisches Wasserballett
Unbeirrt trainieren europaeische Weltraumfahrer den Einsatz im All, obwohl er in galaktische Ferne gerueckt ist. Sie lernen Fallschirmspringen und ueben den All-Tag in der Schwerelosigkeit. Mit dabei: Claude Nicollier, Schweizer Astronaut mit echter Weltraum-Erfahrung.
Die Solaranlage muss auf das Labordach. Normalerweise nur ein paar Handgriffe: Geraet auf die Halterung setzen, festschrauben, Kollektoren ausklappen. Schwierig wirds unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit: Das koffergrosse Sonnenkraftwerk bleibt nicht stehen, wo die beiden Astronauten es ab- setzen, sondern droht davonzuschweben. Der Schraubenzieher baumelt an einem Kabel, genau wie alles andere Werkzeug, und auch die Weltraum-Installateure selbst - sie muessen hoellisch aufpassen, dass sie sich nicht in den Strippen verfangen. Und ohne Schwerkraft kostet jede Bewegung viel mehr Kraft.
Kaum haben die Maenner den blausilbrig funkelnden Solarkollektor zu voller Groesse entfaltet, steigen sie auf - aus den endlichen Weiten eines Tauchbeckens. Im European Astronaut Centre (EAC) in Koeln ueben Weltraumfahrer, sich in der Schwerelosigkeit zu bewegen. "Es ist wie beim Ballett", sagt der Schweizer Claude Nicollier, der bei den Reparaturen des Hubble-Teleskops 1993 und 1999 auch schon echte Allspaziergaenge gemacht hat. "Jede Bewegung muss praezis sein. Fehler kosten viel Zeit - die man im Orbit nicht hat."
Erster Blick hinter die Kulissen
Ob Nicollier jemals wieder kosmisches Ballett tanzen wird, steht in den Sternen. Seit dem Columbia-Absturz im Februar 2003 sind alle US-Shuttles stillgelegt, die halb fertige ISS-Raumstation droht zu vergammeln. Nur zwei ueberqualifizierte Hausmeister halten derzeit das - so Sicherheitsexperte John Pike - "groesste Bauvorhaben seit den Pyramiden" zusammen, so gut sie koennen. Fuer Forschung ist kaum Zeit. Solange die Weltraumtaxis nicht abheben duerfen, ist die Vollbesetzung der Station mit sieben Astronauten in galaktische Ferne gerueckt.
Den trueben Aussichten zum Trotz bereiten sich die 15 europaeischen Astronauten unbeirrt auf ihre "mission possible" vor. Erstmals hat jetzt die europaeische Raumfahrtagentur Esa einen Blick hinter die Kulissen der Kaderschmiede in Koeln erlaubt, um trotz Krise "business as usual" und Zuversicht zu demonstrieren. Die Botschaft: Astronauten duesen sowieso sehr selten durchs Weltall; die meiste Zeit ihres Berufslebens muessen sie auf der Erde die Schulbank druecken - auf ein bisschen Nachsitzen kaeme es also nicht an. Jeder potenzielle Aussendienst-Mitarbeiter der Esa muss allein im Koelner Trainingscamp bis zu 420 Stunden absolvieren. Hinzu kommen Lektionen bei den Partnern in Houston und in der Naehe Moskaus. Der Stundenplan ist zum Bersten voll: Flugstunden, Russisch lernen, Raumfahrtrecht, Fallschirmspringen, Ueberlebenstraining in unwirtlichen Waeldern. Am Ende koennen die Ueberflieger einen Raumtransporter andocken, sich in der Schwerelosigkeit halbwegs koordiniert bewegen und knifflige Experimente betreuen.
"Einen Hauch von Ahnung"
Fuer praxisnahes Lernen stehen in einer riesigen Halle in Koeln originalgrosse Modelle von Raumfahrtmodulen herum. Zum Beispiel zwei Muster des Weltraumlabors Columbus, das einst Teil der ISS werden soll. In dem einen hebelt der Kanadier Bob Thirsk. An drei Laptops gleichzeitig uebt er die Steuerung der Bordsysteme - die "DMS CMU configuration commands" - fuer Luft, Heizung, Energie und Kommunikation. Auf den Bildschirmen stapeln sich Kaestchen voll mit Zahlensalat. "Sie muessen "Switch to nominal" anklicken", fordert der Trainer, der halb so alt ist wie sein Lehrling. "Dann koennen Sie die Rauchdetektoren pruefen." Wichtig, wenn im Weltraumlabor der Sauerstoff knapp wird - und man kein Fenster oeffnen kann. Zwei Tage lang uebt Thirsk das schon. "Jetzt hab ich einen Hauch von Ahnung", sagt er schmunzelnd.
In der Columbus-Attrappe nebenan hockt der deutsche Astronaut Hans Schlegel, der 1993 im amerikanischen Spacelab neunzig echte Experimente betreute. Jetzt soll er sich ins neue europaeische Labor einfuchsen, dessen Andocken an die ISS auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Als Laie sieht man nur eine verwirrende Vielfalt von Roehren, Ventilen und Schaltern. Doch Schlegel demonstriert Durchblick: "Wenn hier ein Kurzschluss passiert, muss ich wissen, welches Relais sich dort drueben oeffnet, um andere Module zu schuetzen." Aber was, wenn die Esa ihr Labor nie ins All hochkriegt? Solche Gedankenspiele wehrt Schlegel ab. "Ich bin ganz sicher, dass Columbus andocken wird. Ich kann warten."
Im Fluid Science Laboratory, einem grauen Trainingscontainer fuer Fluessigkeitswissenschaften, wartet Trainer Luca Anniciello auf seinen naechsten Schueler. Neben ihm steht ein Metallschrank. Sein Innenleben kann das merkwuerdige Verhalten von Fluessigkeiten in der Schwerelosigkeit unter die Lupe nehmen. Aussen dran gibts nur fuenf Kippschalter und vier gruene Laempchen. Dieses Ding bedienen kann also nicht so schwer sein. "O doch!", lacht Anniciello. "Wenn diese Laboreinheit im All angekommen ist, muessen die Astronauten zuerst einmal etliche Optiken und Spiegel einbauen. Die sind aeusserst empfindlich - ein Fingerabdruck, und so ein teurer Spiegel ist hin."
"Haerter als der Einsatz im All"
Und dann ist da noch der Systemcomputer, der fuer das Training ausgebaut auf einem Tisch steht. Um die Software zu beherrschen, werden die potenziellen Himmelsstuermer 35 Stunden geschult. "Und zehn weitere Stunden fuer jedes geplante Experiment", ergaenzt Umberto Guidoni, der gerade betont froehlich hereinfedert. Ohne die Pannenserie im ISS-Programm waere der Italiener wohl laengst im All gewesen. Hat er es nicht langsam satt, immer weiter und weiter zu trainieren? Guidoni laechelt tiefsinnig und waehlt seine Worte mit Bedacht: "Wir wollen der kleinen Verzoegerung etwas Gutes abgewinnen. Jetzt koennen wir alles noch genauer ueben."
Tausende Informationen muessen sich die All-Lehrlinge in kurzer Zeit merken. Acht Stunden Training am Tag sind normal. Hinzu kommt das persoenliche Fitnessprogramm - zwar muessen Raumfahrer heute keine Muskelmaenner mehr sein, aber topfit. Nur so koennen sie unter den extremen Arbeitsbedingungen 400 Kilometer ueber der Erde ihr Pensum schaffen. "Das Training ist haerter als der Einsatz im All", sagt Claude Nicollier nach der Installa-tion des Solargenerators im zehn Meter tiefen Wasser. "Durch die Taucherbrille sieht man weniger als im Raumanzug. Ausserdem bietet das Wasser viel mehr Widerstand als das Nichts."
Und sowieso: Lieber als Abtauchen waere dem Sechzigjaehrigen ein echter Hoehenflug. "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich nochmals fliege, ist sehr gering."
Udo Taubitz
Claude Nicollier (M.) im Wassertank beim Aufbau der Solaranlage, European Astronaut Centre, Koeln: Nicht in den Strippen verfangen.
Astronaut Nicollier: "Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nochmals fliege, ist sehr gering."
Hubble
Retter Roboter
Viele Experten moechten auf Astronauten verzichten. Dass dies moeglich ist, beweist die Rettung des Weltraumteleskops Hubble. Ein Sturm der Entruestung brach unter Wissenschaftlern los, als die Nasa die Shuttlefluege stoppte. Hubble schien zum Absturz verdammt. Doch nun soll der kanadische Roboter Dextre ferngesteuert von der Erde die rettenden Ersatzteile befes-tigen. Er bleibt bis zum Ende von Hubbles Dienstzeit an ihm haengen.
All-Baustelle Pannenserie reisst nicht ab
Seltsame Klopfgeraeusche, kaputter Schaltblock die Raumstation-Entwicklung gestaltet sich schwierig.
Mit geschaetzten Kosten von bis zu 240 Milliarden Franken ist die Internationale Raumstation (ISS) das groesste Raumfahrtprojekt aller Zeiten. 16 Nationen sind beteiligt. Neben Russland, den USA und Japan steckt auch die Schweiz viele Steuermillionen ins "Weltwunder fuer das neue Jahrtausend" (US -Raumagentur Nasa). Genaue Zahlen sind nicht zu bekommen; das Swiss Space Office spricht von jaehrlich 25 Millionen Franken, die auch noch andere Projekte finanzierten. Der Bau der ISS begann 1998, seit 2000 sind staendig Astronauten auf der Baustelle im All. Das halb fertige Haus in den Sternen kreist in Hoehen zwischen 335 und 460 Kilometern um die Erde.
Der urspruengliche Fertigstellungstermin 2006 erweist sich als utopisch. Seit der Columbia-Katastrophe im Februar 2003 und dem Flugstopp fuer die drei verbliebenen US-Faehren fehlen Transportkapazitaeten. Die russische Sojus -Kapsel bringt nur alle sechs Monate zwei Astronauten als Abloesung zur Station. Ohne die amerikanischen Shuttles kommen auch keine weiteren ISS -Module nach oben. Laut Nasa soll die Shuttle-Flotte im Maerz 2005 wieder flugbereit sein - Insider wie der ehemalige Astronaut Harrison Schmitt bezweifeln das.
Derzeit sind Genn Padalka (Russland) und Michael Fincke (USA) an Bord der ISS. Die Wissenschafts-Astronauten haben vorwiegend Wartungsarbeiten auszufuehren. Die Pannenserie reisst nicht ab. Zuletzt beunruhigten geheimnisvolle Klopfgeraeusche, davor ging ein Schaltblock fuer die Energieversorgung kaputt. Ende Mai wanderte der amerikanische Raumanzug fuer Aussenarbeiten defekt in den Altkleidersack. Jetzt erlaubt nur noch der russische Schutzanzug einen Ausstieg fuer Reparaturen.
Die Internationale Raumstation ist derzeit fast 50 Meter lang und 130 Tonnen schwer. Komplett soll sie dreimal so viel wiegen und eine Laenge von 80 und eine Spannweite von 108 Metern haben.
Die Zeit draengt, die ersten Bauteile sind 2013 abbruchreif. Neue Transport -Raumfaehren koennen fruehestens 2010 abheben. Die Amerikaner haben bekannt gegeben, dass sie die Forschung an Bord der ISS nach ihrem neuen Mond- und Marsprogramm ausrichten. Praesident George W. Bush hatte im Januar diesen neuen Fokus des US-Raumprogramms verkuendet. In Expertenkreisen kursieren allerdings Geruechte, die USA wollten das teure Prestigeprojekt ISS am liebsten abschreiben und sich ganz auf Mars und Mond konzentrieren.
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