
Frankfurter Allgemeine Zeitung July 18, 2003
Israel in Reichweite der Raketen
Von Nikolas Busse
17. Juli 2003 Große Schlagzeilen hat die Nachricht in Europa nicht gemacht. Sie hat langfristig aber mehr Bedeutung für die Sicherheit im Nahen Osten als viele Selbstmordattentate: Die iranische Regierung hat dieser Tage offiziell bekanntgegeben, daß sie die Tests für die Entwicklung der ballistischen Mittelstreckenrakete Shahab 3 abgeschlossen hat. Ein Sprecher des Außenministeriums in Teheran teilte mit, als nächstes werde die Rakete den Streitkräften des Landes zur Indienststellung übergeben.
Diese Meldung hat vor allem in Israel Aufregung hervorgerufen. "Wir sind sehr besorgt", sagte der Sprecher der israelischen Regierung in der vergangenen Woche. Denn die Shahab 3 hat eine Reichweite von etwa 1300 Kilometern, was ausreicht, um Ziele auf israelischem Territorium zu treffen.
Direktes militärisches Drohpotential
Damit gewinnt Iran zum ersten Mal ein direktes militärisches Drohpotential gegen Israel. Für den jüdischen Staat ist das aus zwei Gründen mißlich. Zum einen wird der Sicherheitsgewinn, der durch den Sturz Saddam Husseins entstanden war, gleich wieder durch eine neue potentielle Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen aus der Region geschmälert. Zum anderen gewinnt just jener islamische Nachbarstaat neue Druckmittel, der den Israelis wegen seiner Unterstützung der libanesischen Terror-Organisation Hizbullah als offen feindselig gilt.
Aber auch gegenüber der Türkei und Pakistan verbessert Iran seine strategische Stellung: Mit der neuen Rakete sind nun Angriffe auf nahezu das gesamte Staatsgebiet der beiden Nachbarländer möglich. Die Reichweiten der Vorgängermodelle Shahab 1 (300 Kilometer) und Shahab 2 (500 Kilometer) gestatteten nur den Beschuß von etwa der Hälte des türkischen und pakistanischen Territoriums. So vergrößert Teheran seinen militärischen Spielraum gegenüber der Nato und dem Nachbarn im Osten, dessen atomare Rüstung und Einmischung in Afghanistan der iranischen Führung ein Dorn im Auge sind.
Auf Basis der sowjetischen Scud-B-Rakete
Die Shahab 3 ist eine einstufige ballistische Rakete, die auf der Technologie der sowjetischen Scud-B-Rakete beruht. Die Iraner haben wohl seit Mitte der neunziger Jahre an ihr gearbeitet. Westliche Geheimdienste vermuten, daß sie dabei vor allem Unterstützung aus Nordkorea erhielten, für das der Verkauf von Raketentechnologie seit längerem eine der lukrativsten Quellen zur Devisenbeschaffung ist. Nordkorea soll Prototypen seiner Nodong-Rakete, die ebenfalls eine Weiterentwicklung der Scud-Technik darstellt, an Iran geliefert haben. Israelische Fachleute vermuten, daß die Shahab 3 identisch mit der Nodong-Rakete ist oder allenfalls eine Weiterentwicklung dieser Waffe. Auch russische Firmen sollen laut Bundesnachrichtendienst beim Bau geholfen haben.
Für Europa ist bedeutsam, daß die iranische Rüstungsindustrie an Raketen mit noch größerer Reichweite arbeitet. Vor vier Jahren hat der Verteidigungsminister des Landes bekanntgegeben, daß eine Rakete vom Typ Shahab 4 entwickelt wird. Sie dürfte eine Reichweite von 2000 Kilometern erreichen und könnte in den nächsten Jahren fertiggestellt werden; frühere Schätzungen von westlichen Diensten waren von einem möglichen Produktionbeginn im Jahr 2005 ausgegangen. Schon diese Rakete könnte Ziele in Europa erreichen, unter anderem in Polen, der Slowakei und Ungarn. Von 2600 Kilometer Reichweite an ließe sich dann auch deutsches Territorium bedrohen, vor allem Sachsen und Bayern. Tatsächlich gab es in den vergangenen Jahren Medienberichte, daß Iran sogar eine Rakete mit 5500 Kilometer Reichweite plane (Shahab 5), die praktisch Ziele überall in Europa treffen könnte. Es gibt bisher aber kaum gesicherte Hinweise darauf, daß solch ein Projekt schon in einer konkreten Entwicklungsphase wäre.
Was die Shahab 4 betrifft, so heißt es von iranischer Seite offiziell, diese Rakete werde ohnehin nur gebaut, um Satelliten ins All zu transportieren. Das würde der Islamischen Republik aber auch militärische Möglichkeiten eröffnen: Im Zeitalter der Hochtechnologie-Kriege sind Satelliten zentrale Instrumente der militärischen Aufklärung und Einsatzsteuerung.
Wirklich nur für konventionelle Waffen?
Bei alledem lautet die entscheidende Frage, ob es dem Land gelingt, seine Raketen auch mit Massenvernichtungswaffen zu versehen. Die jetzt fertiggestellte Shahab 3 ist für den Transport eines Sprengkopfes von 700 Kilogramm Gewicht ausgelegt. Nach Einschätzung israelischer Wissenschaftler soll damit fürs erste nur ein konventioneller Sprengkopf transportiert werden. Ein jüngst veröffentlichtes Papier des Jaffee Center for Strategic Studies an der Universität von Tel Aviv kommt deshalb zum Schluß, daß derzeit für Israel von der neuen iranischen Rakete keine "ernsthafte Gefahr" ausgehe; im Falle eines Einsatzes werde der Schaden wohl so gering ausfallen wie während des Golfkrieges 1991, als Saddam Hussein Israel mit Raketen beschießen ließ.
Völlig verändert wäre die Lage freilich, wenn es Iran gelänge, einen Atomsprengkopf herzustellen, der klein genug wäre, um von der Shahab 3 getragen zu werden. Die größere Shahab 4 könnte sogar Sprengköpfe mit einem Gewicht von 1000 Kilogramm aufnehmen. Solange sich die iranische Regierung mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nicht auf eine bessere Kontrolle der iranischen Atomanlagen verständigt, können solche Aktivitäten nicht verläßlich ausgeschlossen werden. In dieser Woche soll eine Delegation der in Wien ansässigen Behörde neue Gespräche über zusätzliche, umfassendere Inspektionen als bisher führen.
Für das iranische Raketenprogramm wäre zudem der Einsatz von Sprengköpfen mit biologischen oder chemischen Waffen denkbar. Die amerikanische Nichtregierungsorganisation GlobalSecurity.org, die als gut informiert gilt, schätzt, daß Iran zu militärischen Einsätzen mit Chemiewaffen in der Lage ist und bei den Biowaffen ein "fortgeschrittenes" Forschungs- und Entwicklungsprogramm betreibt. Die militärische Wirkung von Raketen, die mit B- oder C-Waffen bestückt sind, ist allerdings gering. Sie sind - vor allem wegen ihrer psychologischen Wirkung - eher beim Angriff auf zivile Ziele von Nutzen.
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