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Spiegel Online April 08, 2003

"Die Stadt wird das Grab des Feindes"

Von Markus Becker

Die alliierten Streitkräfte melden aus Bagdad einen Erfolg nach dem anderen. Die Gefahr eines blutigen Fiaskos aber bleibt bestehen. Militärhistoriker sind sich einig: Sollte die irakische Führung nennenswerten Widerstand organisieren, könnten in Bagdad Tausende Zivilisten und alliierte Soldaten sterben.

Hamburg - Alles sah nach einem Blitzsieg für die Deutschen aus. Ende August 1942 erreichten die 6. Armee und die 4. Panzerarmee die Außenbezirke Stalingrads, vier Wochen später waren 90 Prozent der Stadt in deutscher Hand. Das Ende ist hinlänglich bekannt: Die Rote Armee leistete in letzten "Widerstandsnestern" entlang der Wolga hartnäckigen Widerstand, während sie zugleich mit starken Einheiten unbemerkt einen Ring um die Stadt schloss und die Angreifer einkesselte. Im brutalen Straßenkampf starben 200.000 deutsche Soldaten sowie etwa eine Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten.

Das Gespenst der blutigsten Häuserschlacht der Geschichte schwebt auch über Bagdad. Zwar dürfte die irakische Armee kaum zu einem groß angelegten Gegenangriff in der Lage sein, doch der Kampf Mann gegen Mann um jeden Wohnblock, jedes Haus und jedes Zimmer ist der Alptraum der amerikanischen und britischen Strategen. Der urbane Zermürbungskrieg - im amerikanischen Militärjargon "Military Operations on Urbanized Terrain", kurz "Mout" genannt - würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen extrem hohen Blutzoll unter Soldaten und Zivilisten fordern und die technologische Überlegenheit westlicher Armeen bedeutungslos werden lassen.

Hinter jeder Straßenecke lauert der Tod

Wenn "Panzer aus Garagen und Häusern heraus schießen" und Fußsoldaten zu "überfallartigen Angriff" ansetzen, wie der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber für Europa, Wesley Clark, vor dem Angriff auf Bagdad befürchtete, nützen auch Hightech-Kampfjets und Präzisionsbomben wenig. Im Chaos des Nahkampfs, bei dem hinter jeder Straßenecke der Tod lauert, können die angreifenden Soldaten Gegner und Zivilisten nur schwer unterscheiden, zumal es offenbar zur Strategie der Iraker gehört, ihre Kämpfer als Zivilisten zu tarnen.

Die irakische Führung kennt ihren Vorteil: Statt sich wie im Golfkrieg von 1991 den haushoch überlegenen Alliierten in offener Feldschlacht zu stellen, räumten sie im jetzigen Krieg die Ebene und zogen sich in die Städte zurück. "Der Feind wird nicht anders können, als nach Bagdad hineinzugehen, und die Stadt wird sein Grab werden", drohte der irakische Verteidigungsminister Sultan Haschim Achmed.

Die Geschichte gibt den Irakern Grund zum Optimismus. "Wenn die Bevölkerung Widerstand leistet und die Verteidiger mit Nachschub versorgt werden, wäre Bagdad nur unter größten Verlusten einzunehmen", sagt Bernhard Kroener, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Ob eine Fünf-Millionen-Stadt wie Bagdad dermaßen lückenlos eingeschlossen werden kann, dass jeglicher Nachschub abgeschnitten wird, hält Kroener angesichts des dafür nötigen Aufwands für fraglich. Und ob sich die Bevölkerung, wie von den Alliierten erhofft, gegen das Regime erheben werde, wisse derzeit niemand.

"Goldene Division" verteidigt Bagdad

Zudem steht für Militärexperten fest, dass den alliierten Truppen ein ernst zu nehmender Gegner gegenübersteht. Die Spezielle Republikanische Garde Saddam Husseins verteidigt den Stadtkern von Bagdad. Die rund 26.000 Mann starke Elitetruppe, auch als "Goldene Division" der Republikanischen Garde bekannt, besteht nach Informationen des Washingtoner Think Tanks "Globalsecurity.org" nahezu ausschließlich aus Soldaten aus Stämmen und Gebieten, die Saddam in bedingungsloser Treue ergeben sind. Hinzu kommen mehrere Tausend fanatische "Fedajin"-Kämpfer und bewaffnete Mitglieder der regierenden Baath-Partei.

Die "Goldene Division" soll speziell für den Häuserkampf in Bagdad trainiert sein und jede Gasse der Hauptstadt kennen. Sie kann die alliierten Truppen trotz ihrer vergleichsweise primitiven Mittel empfindlich treffen. Für Scharfschützen, die in der Stadt überall Deckung finden und ständig ihre Position wechseln, sind die alliierten Truppen ein leichtes Ziel. Auf kurze Distanz können auch die Hartkerngeschosse aus den veralteten irakischen T-72-Panzern die Mehrschicht-Panzerung der amerikanischen "Abrams"-Kampfpanzer durchdringen.

Neuartige Taktik der US-Truppen

"Natürlich kann man Bagdad erobern, wenn man mit genügend Kräften Häuserblock für Häuserblock einnimmt", sagt Kroener. "Aber das wäre ein blutiges Unterfangen, dessen politische Kosten für westliche Regierungen kaum tragbar wären." Gerd Krumeich, Militärhistoriker an der Uni Düsseldorf, erkennt im aktuellen Vorgehen der Amerikaner in Bagdad dagegen eine völlig neue Taktik, die eventuell zu einer Eroberung der Stadt ohne größeres Blutvergießen führen könnte. "Die Amerikaner erobern strategisch und symbolisch wichtige Einrichtungen und warten dann ab, wie sich die Bevölkerung verhält", sagt Krumeich. "Das sind hoch clevere Aktionen. So viel taktische Intelligenz hätte ich den Amerikanern nicht zugetraut."

Ob das neuartige Vorgehen Erfolg haben werde, entscheide sich in den nächsten 24 Stunden. Sollten sich die Iraker aber entschließen, "jeden Keller und jede Dachluke" zu verteidigen, sieht auch Krumeich eine Katastrophe auf Bagdad zukommen, schon angesichts der bekannten Taktik der US-Truppen: "Die Amerikaner legen lieber alles in Schutt und Asche, als auch nur einen ihrer Soldaten zu opfern."

Wie so etwas allerdings in Fernsehbildern wirkt, erfuhr die US-Armee 1968 bei der Schlacht um die vietnamesische Stadt Hue. Einen ganzen Monat lang liefen die Bilder der blutigen Kämpfe um US-Fernsehen - eine Revolution in der Kriegsberichterstattung und zugleich mehr als nur ein psychologischer Wendepunkt des Vietnamkriegs.

"Die US-Truppen hatten einen klaren technologischen Vorteil, konnten ihn aber nicht gegen die nordvietnamesischen Truppen und den Vietcong einsetzen. Das Ergebnis war eine lange Schlacht, die nur unter hohen Verlusten gewonnen wurde", heißt es in der "Doctrine of Joint Urban Operations", einem 151 Seiten starken Memorandum zum Häuserkampf, das die Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte im September 2002 vorlegten. Die Militärplaner räumen darin ein, dass die Nordvietnamesen das Wissen um die Wirkung der blutigen Bilder in den USA erfolgreich nutzten: "Der taktische Sieg der USA wurde Teil der strategischen Niederlage."

Lehren aus russischem Fiasko in Grosny

Andere Beobachter ziehen Parallelen zwischen Bagdad und der Schlacht um die tschetschenische Hauptstadt Grosny, die für die russischen Streitkräfte 1996 in einer peinlichen Niederlage endete. Trotz der überwältigenden Überlegenheit des russischen Militärs konnten die Rebellen die Hauptstadt nach zweijährigem Krieg zurückerobern - und das, obwohl die russische Armee laut Kroener bei weitem weniger Rücksicht auf eigene Verluste und die Zivilbevölkerung nimmt als die US-Armee.

Die Gründe, die Timothy L. Thomas vom Foreign Military Studies Office der US-Armee für das russische Scheitern im ersten Tschetschenien-Krieg anführt, lesen sich wie eine Warnung an die alliierten Strategen, die den Irak-Krieg mit dem Versuch eines "Enthauptungsschlags" eröffneten. Die Führungskräfte der Rebellen seien von den Russen als Mittelpunkt der tschetschenischen Separatistenbewegung ausgemacht worden - ein fataler Irrtum, wie Thomas in seinem Buch "Die Schlacht um Grosny" schreibt. "Die Russen glaubten, wenn sie den Rebellenführer Dudajew beseitigen, könnten sie der Unabhängigkeitsbewegung ein schnelles Ende bereiten."

Deren wirklicher Mittelpunkt sei aber weder Dudajew noch die Hauptstadt gewesen, sondern der ethnische Nationalismus der Tschetschenen. Auch im Irak ist es zumindest fraglich, ob es allein Saddam Hussein ist, der das Volk gegen die westlichen Invasoren einen könnte.

Die russischen Erfolge des zweiten Tschetschenien-Kriegs von 1999 bis 2000 führt Thomas nicht zuletzt auf den restriktiven Umgang des Kremls mit den einheimischen Medien zurück: Die "Neuprogrammierung des Bewusstseins der Massen" sei eine der wichtigsten Lehren gewesen, die die russische Regierung aus dem Fiasko des ersten Tschetschenien-Krieges gezogen habe.

Der Propagandafeldzug der USA und Großbritanniens vor und während des Irak-Kriegs legt den Schluss nahe, dass auch sie ihre Lehren aus dem russischen Debakel gezogen haben - und deshalb den geplanten "Enthauptungsschlag" gegen Saddam Hussein mit einem beispiellosen Propagandakonzert untermalten. Die US-Regierung hatte damit Erfolg: Wie in den russischen dominiert auch in den amerikanischen Medien die Sicht der Regierung bezüglich des Kriegs, wenn auch aus anderen Gründen als in Russland.

Städte sind das Schlachtfeld der Zukunft

Amerikanischen Militärs gilt der Irak-Krieg als Härtetest für künftige Konflikte, die sich nach Einschätzung von Experten zunehmend in städtischen Gebieten abspielen werden. "Großstädte sind das wahrscheinlichste Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts", befand schon 1996 das Defense Science Board, ein Beraterausschuss im Pentagon. Dennoch sind die US-Streitkräfte offenbar bis heute nur unzureichend auf die neue Herausforderung vorbereitet.

"Globalsecurity.org" übt nahezu universale Kritik an den Fähigkeiten der US-Truppen, einen urbanen Krieg erfolgreich zu führen. So trainierten amerikanische Soldaten in Dörfern für den Kampf in Großstädten, seien nicht mit ausreichenden Mengen an notwendiger Spezialbewaffnung ausgerüstet und verfügen, so ein überraschender Vorwurf, auch nicht über ausreichende Vorräte an Material, von Munition bis hin zu Verbandsmaterial.

"Man wird es den Krieg der drei Wohnblöcke nennen"

Auch die Fähigkeit, zu schießen und zu treffen, sei in weiten Teilen der Armee unterentwickelt. Lediglich die Spezialeinheiten der US-Armee seien angemessen für den Häuserkampf ausgerüstet und ausgebildet. Doch ihre Zahl reiche bei weitem nicht aus, um dem vollmundigen Versprechen von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gerecht zu werden, zwei "regionale Konflikte" zugleich bewältigen zu können. Den regulären Truppenteilen fehle dagegen so ziemlich alles, was im Häuserkampf Erfolg und geringe Verluste verspricht.

Derzeit lautet die Devise für die US-Armee noch, dem Häuserkampf am besten aus dem Weg zu gehen und die Stadt zu isolieren - eine Vorgabe, die angesichts der zunehmenden Verstädterung immer schwieriger zu befolgen sein wird. Unterschiedlichen Statistiken zufolge werden im Jahr 2010 etwa drei Viertel der Weltbevölkerung in Städten leben.

Was dem US-Militär bevorsteht, umreißt General Charles C. Krulak vom US-Marinekorps in der "Doctrine for Joint Urban Operations": "Erst werden unsere Soldaten bei humanitären Hilfsaktionen Kriegsflüchtlingen Kleidung und Essen geben. Dann werden sie bei friedenserhaltenden Missionen zwei Krieg führende Stämme auseinander halten. Schließlich werden sie in einer hochgradig tödlichen Schlacht kämpfen. Alles am selben Tag, alles innerhalb von drei Wohnblöcken derselben Stadt. Man wird es den Krieg der drei Wohnblöcke nennen."


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