
Tages-Anzeiger June 12, 2002
Washington erwaegt Praeventivschlaege
Von Urs Gehriger
Die neue US-Militaerdoktrin sieht Praeventivschlaege gegen Terroristen und "Schurkenstaaten" vor. Im Notfall koennten dafuer auch Atomwaffen eingesetzt werden.
Wie die "Washington Post" Anfang Woche berichtete, erarbeitet der Nationale Sicherheitsrat eine neue strategische Doktrin, die auch Praeventivschlaege gegen Terroristen sowie gegen feindliche Staaten vorsieht, die ueber Massenvernichtungswaffen verfuegen. Dies wuerde eine wesentliche Neuorientierung der bisherigen Doktrin bedeuten. Beruhte im Kalten Krieg die Militaerstrategie auf Eindaemmung und Abschreckung, sollen kuenftig potenzielle Gegner notfalls im Voraus durch "defensive Interventionen" neutralisiert werden. Revidierte Atompolitik
Auch bei den Mitteln, die unter der modernisierten Doktrin eingesetzt werden sollen, gehen die USA neue Wege. Insbesondere den Atomwaffen wird neue Bedeutung beigemessen. Gemaess Pentagon-Angaben wird ein nuklearer Angriff etwa gegen Staaten erwogen, die ueber biologische Massenvernichtungswaffen verfuegen.
Seit einigen Monaten wird in Washington ueber eine neue Atomstrategie diskutiert. Grundlage fuer die Debatte ist die im Maerz in Auszuegen publik gewordene geheime "Nuclear Posture Review" (NPR) des Pentagon (www.globalsecurity.org). Bei der NPR handelt es sich um den Bericht einer Ende letzten Jahres abgeschlossenen Ueberpruefung der Nuklearpolitik der US -Regierung. Darin werden drei Eventualfaelle beschrieben, in denen Atomwaffen zum Einsatz kommen koennten: "Sofort" waere dies der Fall, wenn der Irak Israel oder wenn Nordkorea Suedkorea angreifen wuerde. "Potenziell" waere ein Nuklearschlag moeglich, sollte ein neues, starkes Militaerbuendnis entstehen. Schliesslich koennten Nuklearwaffen auch "unerwarteterweise" eingesetzt werden, wenn Massenvernichtungswaffen bei einem Gegner ueberraschend auftreten oder ein als gefaehrlich erachteter Regierungswechsel in einem Staat eintreten sollte, der Massenvernichtungswaffen besitzt.
Generell soll die nukleare Option den USA mehr Bewegungsfreiheit im Kampf gegen den Terrorismus und gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen gewaehren. "Groessere Flexibilitaet als waehrend des Kalten Krieges ist im Blick auf unsere nuklearen Kraefte und unsere nukleare Planung noetig", begruendet US-Verteidigungsminister Rumsfeld im Vorwort der NPR die neue Nuklearpolitik.
Derzeit, so der Bericht, sei es den USA nur unzureichend moeglich, bewegliche Ziele, tief verbunkerte Ziele und Ziele, an denen sich Massenvernichtungswaffen befinden, zeitgerecht aufzuklaeren und zu bekaempfen. Deshalb sei nicht nur eine schnellere Zielerkennung, sondern auch eine bessere Waffentechnologie noetig. Nach Angaben des Pentagon-Geheimdienstes DIA ist allein die Zahl der unterirdischen Bunker, die von politischen und militaerischen Fuehrungen benutzt werden oder etwas mit Massenvernichtungswaffen zu tun haben, auf 1400 gestiegen. Dagegen seien die heute vorhandenen rund 8000 aktiven strategischen Atomsprengkoepfe zu wenig geeignet. Insofern erstaunt es nicht, dass deren Zahl, wie juengst in dem Abruestungsabkommen mit Russland, massiv abgebaut werden soll.
Zwecks Anpassung an die neue Bedrohungslage prueft das Pentagon, vorhandene Nuklearsprengkoepfe zu modifizieren, um unterirdische Ziele besser treffen zu koennen. Zudem wird auch an so genannten Mini-Nukes geforscht, deren Explosion weniger radioaktive Strahlung freisetzt und somit geringere Kollateralschaeden hervorruft (siehe Kasten). Das Pentagon haelt fest, dass solche Nuklearwaffen auch in der neuen Doktrin, die im Herbst als "National Security Strategy" veroeffentlicht wird, nur im "aeussersten Notfall" eingesetzt werden sollen. Allfaellige Angriffe wuerden auch in Zukunft prinzipiell mit konventionellen Offensivwaffen gefuehrt.
An diesem Punkt aeussern Kritiker massive Bedenken. "Wer, ausser den USA, ist in der Lage zu pruefen, ob ein Einsatz von Nuklearwaffen gerechtfertigt ist?", fragt Ottfried Nassauer, Leiter des Informationszentrums fuer Transatlantische Studien in Berlin (BITS). "Ein Praeventivschlag lebt vom Ueberraschungseffekt; Beweise werden, wenn ueberhaupt, erst nach einem Einsatz auf den Tisch gelegt."
Unabsehbare Folgen
Ungewiss sind auch die moeglichen Konsequenzen, welche der Doktrinwechsel nach sich ziehen koennte. Die militaerische Bedeutung nuklearer Waffen wird wieder steigen. Somit waechst die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes und damit auch die Moeglichkeit, dass nicht nukleare Staaten nach dem Besitz von Atomwaffen streben werden.
Zudem drohen die USA einmal mehr, einen internationalen Vertrag zu brechen. Gemaess dem Abkommen ueber die Nichtverbreitung nuklearer Waffen sind atomare Angriffe auf Nichtnuklearstaaten verboten. In der NPR werden solche Schlaege jedoch explizit thematisiert, indem etwa Syrien und Libyen als moegliche Ziele genannt werden.
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